Verschwörung in Leverkusen? Die Stimmung rund um die BayArena ist am Siedepunkt, die Nerven liegen blank. Nach dem schockierenden 1:1-Unentschieden gegen Borussia Mönchengladbach wittern viele Anhänger der Werkself nicht nur eine sportliche Enttäuschung – sondern eine gezielte Benachteiligung. In Fankreisen ist inzwischen sogar offen von einer „Manipulation von oben“ die Rede. Die Ultras, traditionell das lautstarke Herzstück der Leverkusener Fankultur, haben als Reaktion auf die dramatischen und umstrittenen Geschehnisse einen radikalen Schritt angekündigt: den Boykott. Sie wollen der BayArena in den kommenden Wochen demonstrativ fernbleiben – als Protest gegen das, was sie als systematisches Unrecht empfinden. Was als emotionales Fußballspiel begann, ist nun zum Politikum innerhalb der Bundesliga geworden.
Auslöser des Protests war eine hochumstrittene Szene in der 89. Minute des Spiels gegen den Erzrivalen aus Mönchengladbach. Bayer 04 hatte in einem intensiven Spiel das Heft in der Hand, drängte auf das 2:1, als ein vermeintlicher Siegtreffer wegen eines angeblichen Offensivfouls zurückgenommen wurde. Die Entscheidung des Schiedsrichters, trotz VAR-Einsatz am ursprünglichen Urteil festzuhalten, ließ viele Fans fassungslos zurück. Minutenlang wurden Buh-Rufe und Schmährufe laut, Transparente wurden hochgehalten, auf denen „DFB-Mafia“ und „VAR = Farce“ stand. Schon während der Partie war die Empörung greifbar, doch in den Tagen danach verdichtete sich das Ganze zu einer kollektiven Wut. In den sozialen Netzwerken kursieren mittlerweile Zusammenschnitte und Nahaufnahmen der Szene, die zeigen sollen, dass der Pfiff ein „Skandal“ war. Der Hashtag #LeverkusenBetrogen trendete über Tage hinweg auf X (ehemals Twitter).
Die Ultra-Gruppierungen rund um „Nordkurve 1904“ und „Sektion Werkself“ reagierten nun geschlossen und entschlossen: Sie rufen zum Streik auf. „Wir werden der BayArena fernbleiben, solange dieses System nicht bereit ist, für Gerechtigkeit zu sorgen“, heißt es in einem öffentlichen Statement, das am Montagabend über diverse Kanäle verbreitet wurde. Der Text spart nicht mit drastischer Wortwahl: Von „systematischer Benachteiligung kleinerer Klubs“ ist die Rede, von einer „unsichtbaren Hand, die den Wettbewerb verzerrt“, und von „einem Sport, der seine Seele verliert“. Der Vorwurf: Während finanzstärkere oder medial mächtigere Vereine in strittigen Situationen oft bevorzugt würden, werde Bayer 04 regelmäßig benachteiligt – ob absichtlich oder aus systemischer Voreingenommenheit, sei dabei zweitrangig.
In Fanforen, WhatsApp-Gruppen und bei Fantreffen kocht die Diskussion weiter. Viele Fans fühlen sich machtlos, enttäuscht, desillusioniert. Sie beklagen nicht nur eine falsche Entscheidung in einem einzelnen Spiel, sondern eine Kette von Ereignissen, die das Vertrauen in den Fußball als fairen Wettbewerb erschüttert hat. Einige sprechen offen von einer „Verschwörung gegen Leverkusen“, andere sehen in den jüngsten Entscheidungen einen Ausdruck der wachsenden Kommerzialisierung des Sports, bei dem kleinere Standorte wie Leverkusen in der öffentlichen Wahrnehmung hinter den großen Namen wie Bayern, Dortmund oder Leipzig zurückfallen. Die Vorstellung, dass der Fußball durch wirtschaftliche Interessen gelenkt werde, ist dabei längst kein Randgedanke mehr, sondern ein Gefühl, das sich tief in den Reihen der aktiven Fanszene verankert hat.
Der angekündigte Boykott ist in seiner Konsequenz drastisch. Es geht nicht nur um das symbolische Fernbleiben bei einem Heimspiel, sondern um einen längerfristig angelegten Protest. Die Ultras wollen nicht nur dem Stadion fernbleiben, sondern auch auf das organisierte Auswärtsfahren verzichten, auf Choreografien, auf Gesänge – kurzum auf all das, was die Stimmung in Leverkusen in den vergangenen Jahren so besonders gemacht hat. „Ohne uns wird es still“, schreiben die Gruppen in ihrem Aufruf. Und sie haben Recht: Die Nordkurve war über Jahre hinweg das akustische Rückgrat des Teams, besonders in engen Spielen. Der emotionale Rückzug der Fans trifft nicht nur die Atmosphäre – er trifft auch die Mannschaft.
Innerhalb des Klubs sorgt der Protest für Nervosität. Trainer Kasper Hjulmand zeigte in einer ersten Reaktion Verständnis für die Emotionen der Fans, warnte jedoch davor, in Verschwörungstheorien zu verfallen. „Wir wurden benachteiligt, keine Frage. Aber ich glaube an die Integrität des Sports. Wir müssen nun geschlossen bleiben.“ Auch Sportchef Simon Rolfes appellierte an den Dialog. „Wir nehmen die Sorgen der Fans sehr ernst. Aber wir müssen gemeinsam an Lösungen arbeiten – nicht durch Isolation, sondern durch Gespräche.“ Intern soll es bereits Treffen zwischen Vereinsvertretern und Fanvertretern gegeben haben, um eine mögliche Deeskalation zu erreichen. Doch bislang ohne durchschlagenden Erfolg. Die Ultras bleiben hart: „Wenn das System krank ist, hilft kein Pflaster – sondern nur ein Schnitt.“
Auch auf medialer Ebene ist die Debatte längst angekommen. Während Boulevardzeitungen von „Fan-Wahnsinn“ schreiben, zeigen sich viele Fußballjournalisten durchaus verständnisvoll. In Talkshows und Podcasts wird die Frage diskutiert, wie viel Macht der VAR wirklich hat – und wer sie kontrolliert. Ist die Technologie am Ende nur ein Werkzeug in einem undurchsichtigen Entscheidungsapparat? Oder liegt das Problem tiefer – in der fehlenden Transparenz, der mangelnden Kommunikation und einer Liga, die zunehmend ihre eigene Basis verliert? Klar ist: Der Fall Leverkusen ist kein Einzelfall – aber vielleicht ein Wendepunkt.
Was der Boykott langfristig bewirken wird, ist schwer abzusehen. Einerseits sendet er ein deutliches Signal, dass die Fanszene nicht bereit ist, alles kommentarlos hinzunehmen. Andererseits könnte die Distanzierung von der Mannschaft und dem Stadion auch eine gefährliche Spaltung erzeugen. Viele Fans außerhalb der Ultraszene zeigen zwar Verständnis, möchten aber dennoch weiter ins Stadion gehen – um das Team zu unterstützen, gerade jetzt. Es droht ein Riss durch die Fanlandschaft, den auch der Verein nicht einfach kitten kann.
In der Mannschaft selbst spürt man die Unsicherheit. Einige Spieler äußerten sich zurückhaltend, andere gaben offen zu, dass sie die Leidenschaft der Kurve vermissen würden. „Wenn es im Stadion leise ist, fehlt uns etwas. Es ist, als ob ein Teil von uns fehlt“, sagte ein Führungsspieler nach dem Training. Ob Telalović, der neue Offensiv-Neuzugang, seine ersten Heimspiele nun vor einer halbleeren Kulisse bestreiten muss, bleibt offen – doch die Wucht der Leverkusener Kurve wird schwer zu ersetzen sein.
Die kommenden Wochen werden zeigen, wie tief der Graben wirklich ist – und ob sich beide Seiten wieder aufeinander zubewegen können. Klar ist: Der Fußball in Leverkusen steht an einem kritischen Punkt. Nicht wegen eines einzigen Spiels, nicht wegen eines Tores, das nicht zählte – sondern wegen des grundsätzlichen Vertrauensverlustes in ein System, das immer weniger nachvollziehbar erscheint. Der Protest der Ultras ist ein Hilfeschrei – laut, unbequem, aber vielleicht auch notwendig. Denn wenn selbst die treuesten Fans sich abwenden, ist es Zeit, genauer hinzusehen.